Herr Fehr, was macht ein Jude in Deutschland zu Weihnachten?
Fehr: Weihnachten hat natürlich nichts mit der jüdischen Lebenswirklichkeit zu tun. Dennoch genieße ich es, an diesen Tagen der besonderen Atmosphäre durch die Innenstadt zu spazieren, die schön geschmückten Schaufenster zu bestaunen und mich vom Duft von Zimtsternen und Punsch, der über den Weihnachtsmärkten aufsteigt, anziehen zu lassen.
Zumal Sie ja erst vor wenigen Tagen Chanukkah, das jüdische Lichterfest, gefeiert haben.
Fehr: Genau, zu Hause im Kreis der Familie oder mit Freunden, acht Tage lang. Es ist übrigens Brauch, Kinder an Chanukka mit kleinen Geschenken zu erfreuen und sich Zeit zu nehmen, mit den Kleinsten zu Hause zu spielen. Unser Chanukka-Lichterfest ist längst nicht mit dem Stress verbunden, den ich bei meinen christlichen Nachbarn beobachte. So muss ich mir über den Einkauf von Geschenken nicht den Kopf zerbrechen und auch nicht darüber, was zum Festessen auf den Tisch kommt und wer eingeladen werden soll. Auch wenn Chanukka und Weihnachten sowohl historisch als auch religiös nicht den gleichen Hintergrund haben, so verbinden die Kerzenlichter beider Feste doch Hoffnung und die Sehnsucht nach Frieden.
Eine Sehnsucht, die wohl lange nicht mehr so stark war wie in diesem Jahr.
Fehr: Putins barbarischer Krieg gegen die Souveränität der Ukraine ist immer noch in vollem Gange. Aber natürlich gehören unsere Gedanken und Sorgen als Jüdische Gemeinde in dieser schweren Zeit in erster Linie Israel, dem Land, dessen Staatsangehörigkeit mich mit Stolz erfüllt und in das vor zehn Wochen dschihadistisch-islamistische Verbrecher in den frühen Schabbat-Morgenstunden eindrangen, Kibbuzim und ein Musik-Festival friedlich feiernder israelischer Jugendlicher überfielen, Kinder, Mütter, Väter und rollstuhlfahrende Großmütter hinschlachteten.
Die Details dieses Massakers sind unerträglich. Noch vor ein paar Monaten lebten wir in einer anderen Welt. Im Mai herrschte beste Stimmung, als im Rathaus der 75. Geburtstags Israels gefeiert wurde.
Fehr: Die Resonanz in der Bevölkerung war damals groß, kaum ein Stuhl blieb im Festsaal frei. Niemand hätte es ahnen oder sich vorstellen mögen, dass Israel nur wenige Monate später durch palästinensisch-islamistische Hamas-Terroristen den blutigsten Angriff auf Juden seit dem Holocaust erleben würde.
Was hat sich seitdem für die Jüdische Gemeinde in Münster verändert?
Fehr: Die vielen Solidaritätsbekundungen, Besuche und Spenden, die wir erhalten, zeigen uns, dass die Anteilnahme auch in Münster groß ist und wir nicht allein sind. Das hilft uns, aber es ist dennoch unübersehbar, dass sich viele unserer Mitglieder Sorgen machen und verunsichert sind. Viele von uns haben Verwandte und Freude in Israel, denen unsere Gedanken gehören. Für viele ist es schwer, in Worte zu fassen, was in Israel, dem Land, das für uns stets als sicherer Hafen galt, geschehen ist und auch gegenwärtig geschieht.
Reichen die Schockwellen aus dem Nahen Osten bis in den Alltag der Jüdinnen und Juden in Münster?
Fehr: Ja, auf jeden Fall. Gemeindemitglieder fragen uns immer wieder, ob es denn gegenwärtig nicht zu gefährlich sei, ihre Kinder zum jüdischen Religionsunterricht oder ins Jugendzentrum zu schicken oder am Schabbat zur Synagoge zu kommen. Religiöse Männer tragen stets eine Kippa als Zeichen der Ehrfurcht vor Gott. Auch ich war bisher Kippaträger und behielt sie auch außerhalb der Synagoge auf. Doch seit dem 7. Oktober mache ich es wie alle unsere männlichen Mitglieder, die ihre Kippa entweder in der Hosentasche oder unter der Mütze verschwinden lassen, das ist wirklich frustrierend. Die Bedrohung ist seit dem 7. Oktober eine andere, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es Antisemitismus auch schon vor dem 7. Oktober gegeben hat.
Es gibt das geflügelte Wort von Jüdinnen und Juden, die auf gepackten Koffern sitzen, damit sie sich im Ernstfall schnell in Sicherheit bringen können. Ist diese Situation nun da?
Fehr: Es gibt in unserer Gemeinde kaum ein Mitglied, das nicht selbst Antisemitismus erlebt hat oder zumindest aus seinem Bekannten- und Freundeskreis darüber zu berichten wüsste. Auszuwandern ist gegenwärtig aber für niemanden aus unserer Gemeinde eine Option. Wir gehen nirgendwo hin, wir bleiben hier und wir lassen uns auch nicht einschüchtern.
Wohin sollten sie auch gehen?
Fehr: Genau. Wohin auch? Bisher konnten wir immer sagen, dass wir, falls nötig, jederzeit nach Israel gehen können. Doch mit dem terroristischen Überfall ist uns diese sicher geglaubte Oase entglitten – zumindest für die nächsten Wochen. Was unseren Mitgliedern am meisten weh tut, ist die Enttäuschung, erneut darüber nachdenken zu müssen, ob ihre Kinder und Enkelkinder in Deutschland eine gesicherte, eine angstfreie Zukunft haben werden.
Das jüdische Chanukkafest ist gerade vorbei, Weihnachten steht vor der Tür – und doch scheint es in diesem Jahr so wenig Erfreuliches auf der Welt zu geben. Wie gehen Sie ganz persönlich damit um?
Fehr: Im Hebräischen hat das Wort „Chai“ (Leben) eine große Bedeutung. Es symbolisiert für uns Hoffnung und den Wert des Lebens sowie den Willen, Leben zu erhalten und zu schützen. Nach dem 7. Oktober fiel häufig der Satz „Am Israel Chai“ (Das Volk Israel lebt). Ohne dieses jüdische Grundprinzip der Hoffnung wäre vieles noch schwerer zu ertragen.
Sie sind regelmäßig in Israel. Haben Sie Hoffnung, dass Sie irgendwann in der Zukunft wieder dorthin können?
Fehr: Ich war zuletzt im Sommer sechs Wochen dort. Im kommenden Jahr werde ich 75 Jahre alt, für das Militär komme ich damit nicht mehr in Frage. Falls allerdings die Ernte im Frühjahr weiter unter dem Terror der Hamas leiden sollte und freiwillige Helfer gesucht werden, dann wäre ich dabei. Dann würde ich eben als Erntehelfer an der Seite Israel meinen Beitrag für mein Land in Not leisten. Westfälische Nachrichten / Münstersche Zeitung
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